Gegrübelte Gedächtnisanalogien

RADÁK / TREFZ

GERÜBELTE GEDÄCHTNISANALOGIEN

Die Arbeiten von Eszter Radák und Annette Trefz in der Ausstellungsreihe Künstlerbegegnungen

Das Liszt-Institut Ungarisches Kulturzentrum Stuttgart, pflegt die schöne Tradition, Künstler:innen aus Ungarn und dem Schwabenland im Rahmen einer gemeinsamen Ausstellung nach einer vorgegebenen – oder aber sich ergebenden – Konzeption zu präsentieren. Eine der wichtigsten Zielsetzungen dieser Ausstellungsreihe mit dem Titel Künstlerbegegnungen ist es, die Künstler:innen und die Institutionen, an denen sie tätig sind, miteinander zu verbinden. Dieses Mal haben wir uns in Zusammenarbeit mit der Baden-Württemberg Stiftung – für deren großzügige Unterstützung wir uns an dieser Stelle bedanken möchten – sowie der Budapester Galerie Judit Virag, dem BBK/W mit Sitz in Stuttgart und dem ebenfalls in Stuttgart ansässigen Freundeskreis des Liszt-Instituts für zwei Malerinnen entschieden.

Abgesehen von ein paar Parallelen könnten ihre Lebenswege gar nicht unterschiedlicher sein, auch wenn sie beispielsweise beide in der Lehre tätig sind, beide mit einem Mann mit ausländischen Wurzeln zusammenleben und beide sich kein bisschen um die ungeschriebenen modernen/zeitgenössischen Erwartungen in der Kunst scheren. In ihrer Kunst fehlt – was keineswegs als Kritik zu verstehen ist – mit den Worten der Kunsthistorikerin Emese Révész „die prophetische Berufung der Avantgarde“.

In der Malerei der beiden Künstlerinnen gibt es zwar sehr viel mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten, dennoch haben wir uns bei den paarweise angeordneten Werken auf die Analogien konzentriert. Das (wie der Knopf zum Mantel) ausgewählte Material vermag auf den ersten Blick nur ikonografische, auf den zweiten vielleicht bereits ikonologische und bei weiterer Betrachtung – intensiverem Grübeln – sogar kunstphilosophische Parallelen aufzuzeigen.

Eszter Radák ist eine Denkerin und Künstlerin, die so einige Diplome aufzuweisen hat. Sie ist Nachkommin und Schülerin bedeutender ungarischer Maler:innen, und es „zeichnet sich ab“, dass auch sie selbst Schule machen wird. Oft arbeitet sie anstatt mit dem Pinsel mit der bloßen Hand, dem Malmesser oder einem Gegenstand, der ihr gerade in die Hände fällt. Die Genese ihrer Werke beruht immer auf einem neuen theoretischen und/oder malerischen Problem, gleich darauf aber übernehmen die „Farbakkorde“ den Staffelstab. Zunächst existiert nämlich das Kolorit, erst dann folgt die Komposition an sich. Ihre in mehreren Schichten aufgetragenen, stets gemischten Farben bergen eine ebenso vielschichtige Interpretation. Die Genrebilder von Eszter Radák stecken voller subtiler kunsthistorischer Anspielungen. Zitate ungarischer und internationaler Meister:innen „nuancieren“ das Bild. Wer findet Rippl-Rónai, wer Vajda, Mattisse oder Hockney? Radák ist (auch) eine Meisterin der (Selbst)Ironie. Was ihre Titel angeht ebenfalls. Die Titel, die oft ein Ergebnis von Beratschlagungen mit der Familie darstellen, gelangen wie Ausschnitte aus einer Erzählung neben die Bilder, die Abdrücke eines angehaltenen, starren Augenblicks. Die statische Momentaufnahme scheint durch den Titel jedoch fast in Bewegung zu kommen, wird durch die patchworkartige Gestaltung jedenfalls vibrierender und vitaler. Den vollkommen toten Landschaften hauchen nicht nur die leuchtenden Farben, sondern auch diese treffenden knappen Bemerkungen oder aber weitschweifigen, schon fast barockartigen Sätze Leben und damit ein Geschehen ein. Die Zeit dieser Geschehnisse ist allerdings, wenn auch nicht statisch, so doch immer langsam. Das von der langen Rutsche ins Wasser platschende Kind, der Fallschirmspringer, der tatenlos der Schwerkraft trotzt, oder die behäbige Bewegung des trägen Strandtennisspielers vor dem Aufschlag erinnern – wie man heute leider (wieder) sagen muss – an eine „Idylle aus Friedenszeiten“. Die gewissermaßen in Zeitlupe stattfindenden bildlichen Ereignisse veranlassen auch die Betrachtenden zum Grübeln. Die gemächlichen Anti-Actionhelden sind Charaktere, die Familienmitglieder, Verwandte, Bekannte oder Nachbar:innen eines jeden von uns sein könnten. Auch das bringt uns die Bilder näher.

Annette Trefz ist eine sensible Künstlerin. Sie redet wenig, hört eher zu. Beobachtet. Während Eszter Radák mit starken Konturen arbeitet, erschafft im Fall der flächigen Tafeln von Annette Trefz praktisch unser Gehirn das Bild: Die Gegenstände des Bildes, seine Flora und sogar die Figuren bauen sich aus Linien und Formen auf, die an explodierte Fraktalstücke erinnern. Das Foto ist dabei nur ein Anhaltspunkt, eine erste Orientierung. Das endgültige Werk wirkt mal traumartig, mal ist es aber auch konkreter als die Realität selbst. Bei näherer Betrachtung sieht man, dass die auf den Gemälden auftauchenden Gestalten – meist Verwandte der Künstlerin – schon fast groteske Züge haben, und auch sich selbst stellt Annette Trefz zuweilen selbstironisch mit einer Grimasse dar. Tritt man allerdings einen Schritt zurück, zeichnet sich auf trügerische Weise ein sehr viel „wirklicheres“ Gesamtbild ab. Diese – wenn auch langsame – Dynamik bildet gewissermaßen einen Kontrapunkt zur Reglosigkeit der dargestellten Themen.

Der Malprozess von Trefz ist einzigartig: Die endgültige, sichtbare Komposition geht von einer hauchfeinen Grundlage, meist einem vergrößerten Motiv eines Familienfotos, aus, die immer mehr an Farbe gewinnt und sich verfestigt. Die Künstlerin hat öfter auch halbfertige Bilder ausgestellt, und sie streitet keineswegs eine anderweitige hartnäckige Präsenz der Wirklichkeit ab. Daher hinterlässt auf ihren Gemälden – ohne den Charakter des Hyperrealismus zu bemühen – das lange Leben der Originalfotografien seine Spuren: Kratzer, Knicke und Falten. Es sind Erinnerungsbilder, die ihr eigenes Leben führen.

Die Bildbegegnungen von Eszter Radák und Annette Trefz werden an den Wänden zu sonderbar profanen Diptychen. Ihre Themen bewegen sich hin und wieder an der schmalen Grenze zur Banalität, gleichzeitig machen sie zuweilen Gebrauch von einzigartigen Perspektiven, die nicht im Geringsten als konventionell bezeichnet werden können.

Gegrübelte Gedächtnisanalogien verkündet der Titel, doch wer hat in der Welt von TikTok schon noch Zeit zum Grübeln? Wer malt denn überhaupt noch? Tafelbilder. Und vor allem Landschaftsbilder? Sind das eigentlich zeitgenössische Künstler:innen, die malen? Ja, und wer hat schon Zeit, Ausstellungen zu besuchen? Auch auf diese Fragen könnten wir nur langsam, grübelnd antworten.

Márton Barki
Kurator

Eszter Radák

(geb. 1971 in Budapest)
absolvierte ihr Kunststudium von 1991–1996 in den Fachbereichen Malerei und Intermedia an der Ungarischen Akademie der Bildenden Künste, ihre Meister:innen waren Károly Klimó, Dóra Maurer und Miklós Peternák. 1998 absolvierte sie zudem das Fach Ästhetik an der Budapester Universität ELTE. In Wien besuchte sie als Stipendiatin der Herder-Stiftung die Meisterklasse von Hubert Schmalix. Während ihres Doktoratsstudiums wurde sie von der Malerin Ilona Keserü betreut. Seit 2000 lehrt sie selbst auch, von Januar 2018 bis September 2021 war sie die Rektorin der Budapester Akademie der Bildenden Künste MKE. Ihre Bilder sind in zahlreichen öffentlichen Institutionen sowie in Sammlungen von Museen im In- und Ausland zu sehen. Ständiger Ausstellungspartner von Eszter Radák ist die Budapester Galerie Judit Virág.

Annette Trefz

(geb. 1973 in Lauffen am Neckar)
schloss 2003 ihr Studium an der Hochschule für Kunsttherapie in Nürtingen als Kunsttherapeutin ab. Ihr Meister in der Fachklasse Malerei war an der Freien Kunstakademie Nürtingen Jürgen Kleinmann. Die heute bereits sehr seltene Eitempera-Technik erlernte sie bei Christoph Fischer in Freiburg. Der Lebensgefährte von Annette Trefz ist der Komponist Héctor Moro, der ihre Ausstellungen immer wieder mit seinen audiovisuellen Werken begleitet. Sie ist Mitglied im BBK/W (Bund Bildender Künstlerinnen Württembergs e. V.) sowie in der GEDOK Stuttgart (Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstfördernden e. V.).